Aktuelles zur Individualpsychologie
Die „Rente“
(Gedanken zum Eintritt in die Rentenzeit)
(Wolfgang Bäuml)
Die Generation der „Baby-Boomer“, der 60 bis 70-Jährigen (1955 – 1965), tritt zunehmend in ihre Rentenphase ein. Laut dem Verein Deutscher Ingenieure (VDI) und dem Institut der deutschen Wirtschaft (IW) werden alleine aus dem Ingenieur- und IT-Sektor bis zu 340.000 Fachkräfte in zehn Jahren in den Ruhestand gehen. Doch nicht nur dieser demographische Effekt ist wirksam, sondern auch die aktuellen geopolitischen Veränderungen und die wirtschaftliche Situation unseres Landes führen zunehmend zu Entlassungen von tlw. „alt-gedienten“ Arbeits-, Fach- und auch Führungskräften. Altersteilzeit, Teilzeitmodelle, vorgezogener Ruhestand sind die Mittel der Wahl.
Was erwartet die zukünftigen Rentner bei diesem Prozess? Es ist nie zu früh, sich vorzubereiten, indem man sich den Umstiegsprozess bewusster macht. Besonders in Verbindung mit eigenen Verhaltenstendenzen können Wirkmechanismen erkannt, besser verstanden und zusätzliche Möglichkeiten der Gestaltung gefunden werden. Aspekte und Fragen dazu werden hier angesprochen.
Neben der Definition der Rente (Wikipedia) als ein Einkommen, welches ohne aktuelle Gegenleistung bezogen wird, zum Beispiel aus angelegtem Kapital oder die Altersversorgung nach einem Arbeitsleben (Altersrente, gesetzliche Rentenversicherung, Ruhegehalt für Beamte), wird mit der „Rente“ meist der Lebensabschnitt nach dem Beruf, nach der versicherungspflichtigen Zeit der Beschäftigung bezeichnet. Dann ist man „Rentner“, jemand der seine Rente bezieht.
Dieser Phasenwechsel bahnt sich in der Regel an. Leider gibt es auch Umstände wie z.B. einen Stellenabbau, in denen man relativ unvermittelt in eine derartige Situation kommt. Ist der Renteneintritt also gewollt oder unfreiwillig, aktiv oder passiv? In Verbindung mit der eigenen Persönlichkeit
ergibt sich daraus der Gefühlszustand, der den Prozess dann maßgeblich begleitet. Auch der Umstieg selbst wird individuell unterschiedlich gehandhabt. Die einen planen ihren Aus-/Umstieg schon längere Zeit vorher und gestalten, manche klammern sich an ihren Job und ihre Position, wieder andere lassen es einfach auf sich zukommen und sich gerne „treiben“.
Eine neue „Welt“? In gewisser Weise ja. Es entstehen neue Impulse und Chancen. Es ist erlaubt, „größere“ Ideen zuzulassen.
Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
der uns beschützt und der uns hilft, zu leben
(Hermann Hesse)
Natürlich ist es angenehm, richtig und gut, sich zunächst erst mal auf die neue Freizeit zu freuen, wenn möglich, Urlaub zu machen, sich zu erholen, sich um Hobbies, Gemeinschaftsaktivitäten, Freunde etc. zu kümmern – zu genießen.
Der Wechsel geht jedoch mit einer grundsätzlich Verschiebung bzw. Gewichtungsänderung der Lebensbereiche Arbeitswelt, Partnerschaft, Gemeinschaft einher. Wie wird der Bereich Arbeitswelt verändert oder ersetzt? Eine neue Balance muss gefunden werden, denn der Chef, der Kunde, die Firma, die bisher meist die Ziele vorgaben und die Aufgaben delegierten, sind nicht mehr da. Man ist dann auf sich alleine gestellt. Wo ist die „Triebfeder“, der Sog, die Anerkennung, die Wertschätzung? Was fällt jetzt weg, was kommt neu?
Menschen wollen selbstwirksam sein, damit es ihnen gut geht. Das gilt natürlich auch für Rentner. Kleine „Projekte“, wie Keller ausmisten, Zimmer renovieren, „was ich schon immer mal machen wollte“ etc. sind auf sich selbst bezogen und bald erledigt. Was kommt danach? Reicht das für die nächsten 20+ Jahre?
Bei Ehepartnern sind Frau und Mann, wer auch immer in einem Betrieb und wer zuhause gearbeitet hat, gleichermaßen betroffen. Die Beziehung wird sich ändern, wenn beide Partner plötzlich den ganzen Tag zuhause zusammen sind - ob bewusst oder unbewusst.
Auch der Alterungsprozess, dem unweigerlich jeder unterliegt, und die finanzielle Situation sind zu betrachten. Wie hoch ist das verfügbare Einkommen (z.B. Rente, Kapital, Versicherung etc.)? Gibt es Reserven, wie lange reicht es?
Es entstehen also bei genauerer Betrachtung ein ganzes Paket von Aspekten und Fragen. Die „richtige“ Lösung bei der Vorbereitung gibt es nicht, da jeder Mensch die aktuelle Situation anders empfindet und individuell, entsprechend seiner Art und seinem Charakter darauf reagiert. Aber es gibt grundsätzliche und individuelle Gesetzmäßigkeiten, Zusammenhänge in uns und Randbedingungen, die auf uns einwirken.
Ein weiterführender Weg ist, sich zu seiner Person, seinen Eigenschaften, seinen Erfahrungen und deren Auswirkungen auf die neue Phase Gedanken zu machen und auf sich wirken zu lassen. So kann man eine angemessenere, realistischere Beurteilung der Situation für das weitere Leben nach der Arbeitszeit bekommen.
In allen Lebensphasen ist der Mensch, der ja einzigartig und unteilbar ist, immer individuell mit all seinen Eigenschaften und Verhaltensweisen aktiv, gemäß seinem Lebensstil*, seinen Finalitäten* und Nahzielen* (*siehe Definitionen auf der ViBD-Homepage). Sie beeinflussen das Handeln und sind somit mit Ursache für die aktuelle Situation - mehr oder weniger bewusst. Je besser man versteht, wie man „tickt“, desto befreiter kann man sich der Situation stellen und desto angemessener handeln. Es fühlt sich auch besser an.
Der Ablauf der menschlichen Reaktion auf Ereignisse und Situationen und deren Wirkung beginnt grundsätzlich bei der Wahrnehmung. Deshalb ist der Einstieg bzw. die erste Konfrontation mit dem Thema „Rente“ interessant und wichtig. Die oben erwähnten äußeren Umstände können mit einer Mischung aus Gefühlen verbunden sein, die sich situativ, je nach aktuellen Situationen und Gedanken einstellt. Also ist es sinnvoll, sich zu fragen: Wie geht es mir bei einem konkreten Thema? Wie kommt es zu den damit verbundenen Empfindungen und Gefühlen?
Eine aktuelle, subjektiv wahrgenommene Situation wird immer auf Basis der eigenen Historie (Erziehung, Kindheit, bisherige Erfahrungen) und den daraus gezogenen Lehren (Lebensstil*) in Sekundenbruchteilen bewertet, verbunden mit der Einschätzung, ob die Situation beherrschbar, herausfordernd, leicht handhabbar, angenehm oder im Gegenteil unbekannt, schwierig, nicht beherrschbar oder sogar bedrohlich ist. Der Grad bzw. die Schwelle, ob ein Ereignis als positiv oder negativ eingestuft wird, ist individuell unterschiedlich und resultiert auch aus den Taten, Erfahrungen und Erfolgen der Vergangenheit, also dem eigenen Mutpegel. Anhand des Ergebnisses der Bewertung werden vom Gehirn über hormonelle Prozesse die entsprechenden, „passenden“ Gefühle und Empfindungen generiert, die für die jeweilige Person und die daraus abzuleitende Aktion sinnvoll sind. Deren Richtung und Intensität (Affekt) bestimmt dann die darauf folgende konkrete Handlung.
In Verbindung mit den Fragen, aus welchem Gedanken heraus sich das Gefühl eingestellt hat, was der Auslöser war, kann man eine Verbindung zur Absicht und geplanten Aktion herstellen. War der Gedanke positiv oder negativ, was war damit verbunden? Was würde ich am liebsten tun - also die Frage „wozu“, „was habe ich davon“ (mein Ziel, meine Finalität*). Das mag anfangs ungewöhnlich sein, doch von dieser Seite aus zu denken eröffnet einen neuen Blickwinkel. So kann man auch in Bezug auf den Renteneinstieg querprüfen ob es richtig und sinnvoll ist, das Geplante zu tun und ggf. eine angemessenere und für sich selbst besser passende Entscheidung treffen. Dies ggf. mit einem externer Partner / Coach nochmal zu überdenken macht das Ganze noch fundierter und nachhaltiger.
Dieses Vorgehen kann auch mit einer grundsätzlichen Reflexion über die Berufszeit und die jetzige Lage verbunden werden: Wozu habe ich meinen / diesen Beruf ausgesucht und ergriffen? Was hat er mir gegeben, was hat mir gefallen, was nicht. War ich Macher oder Aufgabenempfänger, aktiv, kreativ oder passiv? Wie weit bin ich gekommen? Was habe ich mir gewünscht (Träume, Vorstellungen – bewusst oder unbewusst) und was habe ich erreicht in Bezug auf Position, Sicherheit, Erfolg, Gehalt, soziales Umfeld und letztendlich meine Zufriedenheit? Ich bin da, wo ich hin wollte?
Nach vorne gerichtet kann die Frage nach dem Sinn der neuen Herausforderungen und Zukunft, im Sinne von Viktor Frankl erweiternd sein: „Was stellt mir das Leben jetzt für neue Aufgaben“?
Eine neue Zeit beginnt mit dem Abschied von der alten!
Am Anfang steht ja der Ausstieg aus dem Berufsleben, ein Trennungsprozess von der Firma, dem Arbeitgeber, den Kollegen, Mitarbeitern etc.. Es ist es ein nicht zu vernachlässigender Aspekt, der auch mit einem Trauergefühl über vergangene Zeiten, Tätigkeiten, Erfolge einher gehen kann.
Wenn man seinen Frieden mit dem Alten schließen und loslassen will hilft u.a. die Ausräumung möglicher noch bestehender Differenzen oder offener Konflikte im Sinne der Psychohygiene. Ein guter „Abgang“, wenn möglich mit einem positiven Bild und einer positiven Erinnerung, ist beiden Seiten zuträglich, schafft mehr inneren Frieden, wirkt erleichternd und macht freier für zukünftige Aspekte und Schritte.
Wie könnte es nun nach der grundsätzlichen Betrachtung und Einschätzung konkret weiter gehen? Was kann ich jetzt tun bei der Gestaltung des 3. Lebensabschnittes, der nächsten aktiven 20 Jahre, wenn man es so sehen möchte? Nachfolgend können weitere praktische, nach vorne gerichtete und konkrete Punkte anregen, für sich selbst individuelle Ideen zu finden – hin zu einer neuen Balance.
Das Alter nimmt dir nichts, was es dir nicht erstattet (Friedrich Rückert).
Als Anregung hier ein paar konkrete Gedanken / Fragen:
- Was hat mir im Beruf Freude gemacht, was konnte ich gut
- Wo kann ich ggf. mein Wissen und meine Erfahrungen weiterhin einbringen
- Was mache ich gerne, wo ist meine Begeisterung, was ist mein Traum
- Was will ich noch gerne lernen, kennen lernen und können
- Welche Beziehungen sind mir wichtig, die ich pflegen möchte? -> Netzwerk
- Will ich auch etwas für die Gemeinschaft tun (z.B. Ehrenamt, Tafel, Repair Café, Verein)
Je besser das alles ausgewogen in den Lebensbereichen erfolgt, desto mehr trägt es zur eigenen Zufriedenheit bei. Sich ein konkretes Bild zu machen, wie man sich selbst in der Zukunft sieht, kann die weitere Entwicklung beeinflussen, denn es kommt aus der eigenen Einstellung, Wünschen und Träumen.
Bei dem intensiveren Zusammenleben mit dem Partner in der häuslichen Gemeinschaft hilft eine ausgewogene Gestaltung von Geben und Nehmen, die Integration in das persönliche Umfeld zu verbessern und erweitern. Dann wird auch etwas zurückkommen was zur eigenen Zufriedenheit beiträgt. Ein gemeinsames Ideensammeln und Brainstorming für einen optimierten, erweiterten Plan kann auch richtig Spaß machen. Dabei sind Freiräume für jeden wichtig.
Achtsam bleiben, auch sich selbst gegenüber!
Da ja bekanntlich ein gesunder Geist in einem gesunden Körper lebt, ist es angebracht, diesen ebenso Wert zu schätzen! Aktive Vorsorge durch bewussten Lebenswandel mit gesunder Ernährung, körperlichen Aktivitäten und medizinischen Vorsorgechecks verbinden die geistige Vorbereitung mit den körperlichen Aspekten. Zusammen mit dem maßvollen Genießen und der Freude am Leben ist dies der Fitness des ganzen Systems zuträglich.
Aus der Fülle von Gedanken und Ideen kann auch eine Wunsch- bzw. Aktivitätenliste entstehen, die besonders für den Anfang der Rentenzeit eine Struktur und Orientierung bietet, um nichts zu vergessen, ohne jedoch Druck zu machen!
Wichtig ist es, den Zeitpunkt der aktiven Gestaltung nicht zu verpassen.
„Nichts tun zu haben ist eine fürchterliche Bürde“ sagt Nicolas Boileau.
Einstieg in die Rente ist für viele der Schritt vom abhängig Beschäftigten zum Unternehmer in eigener Sache, der jetzt für sich selbst entscheidet - ob freiwillig oder nicht.
Wer will, kann jetzt aktiv an seiner neuen Balance arbeiten, die Chancen erkennen und ergreifen, um ein selbstbestimmteres Leben zu gestalten. Man kann aus jeder Zeit, in der man lebt die „beste“ machen und sich aktiv Freude verschaffen und so positiv auf die neuen Chancen, Möglichkeiten und Freiräume, die das Rentenalter mit sich bringt, schauen.
Alles, was gut tut und nicht zu Lasten anderer geht, ist erlaubt!