Jeder Mensch möchte zu einer Gemeinschaft dazugehören und für
diese einen eigenständigen Beitrag leisten. Dieses
Grundbedürfnis, das Alfred Adler als Gemeinschaftsgefühl
bezeichnet, besteht aus zwei Komponenten, Zugehörigkeitsgefühl
(community feeling) zum einen und Verantwortlichkeit für das
Ganze der menschlichen Gemeinschaft (social interest) zum
anderen. Das "Gemeinschaftsgefühl" ist nicht als normative
sondern als analytische Kategorie zu verstehen. Es geht darum,
dass menschliches Handeln verstanden, erklärt und beschrieben
wird, so wie es sich darstellt, hermeneutisch, ohne von außen
herangetragene Wertung. Mit dem analytischen Zugang wird es
möglich, zwischen Tat und Täter zu trennen, einen entmutigten
Menschen ebenso zu verstehen und als Person in seiner
spezifischen Einzigartigkeit und seinem individuellen
Wertesystem zu würdigen, wie einen ermutigten Menschen in seinem
sozialen Eingebundensein.
Das menschliche Handeln wird nicht nur (mono-)kausal, also von
seinen Ursachen her, sondern immer auch final, unter
Berücksichtigung seiner Motive, auf seine Ziele (des Vermeidens
oder Erreichens) hin, verstanden. Dazu gehören sowohl so
genannte Nahziele des Verhaltens als auch Fernziele im Sinne
einer individuell einheitlichen Leitlinie. Nach Alfred Adler ist
das Grundstreben eines jeden Menschen, sozial dazu zu gehören,
verbunden mit dem Bedürfnis nach Einzigartigkeit. Dieses
vollzieht sich in der psychischen Dynamik der Kompensation (oder
Überkompensation) eines Minderwertigkeitsgefühls (oder
Minderwertigkeitskomplexes) aus seiner frühesten Kindheit.
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Diese final zu denkende Psychodynamik ist letztlich auf das
evolutionär verständliche Ziel des Menschen nach Entwicklung und
Wachstum zurückzuführen. Der Mensch strebt vom Minus zum Plus,
vom Defizit zum Ausgleich, von der „Unsicherheit“ zur Erhöhung
seines Persönlichkeitsgefühls. Sowohl psychische Erkrankungen,
Charakterentwicklungen und soziale Konflikte als auch
menschliche Fähigkeiten, Stärken, Erfolge und kulturelle
Leistungen sind aus dieser Grunddynamik zu sehen. Die Aspekte
der Zugehörigkeit und der Finalität menschlichen Handelns
drücken sich im Handeln, Denken und Fühlen eines jeden Menschen
aus, auch wenn sie ihm häufig verborgen, also unbewusst sind.
Kompensatorisches und überkompensatorisches Grundstreben des
Menschen kann sich dabei prinzipiell in zwei gegensätzliche
Richtungen entwickeln, hin zur „sozial nützlichen Seite“, also
hin zur Gemeinschaft, hin zu anderen Menschen mit positiven
Beziehungen, in anderen Menschen Partner sehend, oder hin zur
„sozial unnützen Seite“, also als Folge einer aus entmutigenden
Sozialerfahrungen von diesem Mensche gezogene Konsequenz „weg“
von der Gemeinschaft, weg von anderen Menschen, in eine
subjektive Sachgasse, in anderen Menschen Gegner und Feinde
sehend.
Jeder Mensch gestaltet im Sinne dieser Polarität sein Leben,
seine sozialen Kontakte. Somit bieten diese analytischen
Gesichtspunkte eine herausragende Möglichkeit zum ganzheitlichen
Verstehen und zur Ermutigung in zwischenmenschlichen und
professionellen Beziehungen. Die besondere Differenz der
Individualpsychologie zu anderen psychologischen Denkrichtungen
ist die Betonung der finalen Deutung menschlichen Handelns, die
immer zu erweiternden Erkenntnissen führt. |
Erweiternde Denk- und Verstehens-ansätze
Mit unterschiedlicher Gewichtung werden in den verschiedenen
Instituten des ViBD folgende der Individualpsychologie
theoretisch nahe stehende psychologische Denksysteme gesehen,
interpretiert und teils auch in die eigene Beratungsarbeit
integriert:
-
Gesprächsführung nach Rogers/ Tausch/ Kelly
-
Konstruktivismus nach Watzlawick
-
Systemische Theorie
-
Gestalttherapie
-
Kommunikationstheorie nach Schulz von Thun
-
Kognitive Verhaltenstheorie nach Ellis u.a.
-
Daseinsanalyse nach Boss/ Heidegger
Die Bedeutung von Stimmungen und Gefühlen wird heute von allen
besonders betont und bietet damit eine notwendige Erweiterung
zur Theorie Alfred Adlers. Die Berater/innen (und
Psychotherapeuten/innen) im ViBD grenzen sich ab von reinen
"Methodenschulen" und manipulativen Ansätzen, in denen die
Anwendung der Methode über die "Richtigkeit" der psychologischen
Aussagen entscheidet (verschiedene Varianten des Behaviorismus
und Positivismus). Reine Methodenschulen greifen zu kurz, da sie
dem oben geschilderten Verständnis des Menschen nicht gerecht
werden. Wir halten sie für beraterisch (und psychotherapeutisch
unbrauchbar, da unseres Erachtens die entscheidenden
Wirkfaktoren in der Arbeit mit Menschen zum einen in der Analyse
und Pflege der Beziehungen und zum anderen im
ganzheitlich/phänomeno logischen Verständnis des Menschen zu
finden sind.
Ebenso wenig halten wir es für hilfreich, den Menschen in
einzelne, miteinander unverbundene Bereiche aufzuteilen, z.B.
Schichtenmodell der dogmatischen Psychoanalyse. Wir sind davon
überzeugt, dass eine Veränderung im menschlichen Handeln nur
dann ermöglicht werden kann, wenn die Beratungsarbeit oder
Psychotherapie den Klienten oder Patienten als
eigenverantwortlichen Mitmenschen würdigt und über rein
kognitives Verstehen hinausgeht. |